Da sitzt man morgens gemütlich beim ersten Kaffee und scrollt sich durch den LinkedIn Newsfeed, um auf dies Video zu stoßen: 

So so, unter dem Markennamen Earth Eyes werden also demnächst Ladenbesucher beobachtet und ihr Verhalten mittels künstlicher Intelligenz auf Abweichungen hin untersucht, so dass nie wieder ein Buch falsch verräumt oder entwendet wird. Mein erster Gedanke: „Das hätte ich im Studium gebraucht, wo Kommilitonen gerne das besonders gefragte Kompendium in der falschen Abteilung versteckten, um es am nächsten Morgen als erste zu haben.“ Mein zweiter Gedanke: „Glaubt der Kassenangestellte wirklich, dass seine Bewegungen, sprich seine Produktivität, nicht ausgewertet werden…“ Ein dritter Gedanke kam mir erst deutlich später, nachdem ich in der Mittagspause weiter durch den Feed einer anderen Plattform scrollte.

Was diese Frauen mit Tape, Modellage-Paste und Makeup alles anstellen können, ist erstaunlich, bewundernswert und beängstigend gleichermaßen. Sie gestalten eine komplett neue Erscheinung, eine neue Nase, eine schmalere Kinnpartie, die Augen wirken gigantisch, die Wangenknochen enorm betont – eine Erscheinung irgendwo zwischen Topmodel und Gottesanbeterin, aber das kann auch nur mein europäisch geprägter Wahrnehmungsfilter sein. Viel spannender ist der Umstand, dass die komplette Neuerfindung des eigenen Antlitzes zeitgleich zum vermehrten Aufzeichnungs- und Analysebestreben der Industrie/des Staates geschieht. 

Natürlich wäre es überspitzt zu sagen, dass eine Zunahme an Überwachung Menschen dazu verleitet ihr Äußeres bis zur Unkenntlichkeit neu zu modellieren. Aber vielleicht geht es unterbewusst genau darum: Wenn ich das Gefühl habe, überall beobachtet zu werden/in gewissem Maße fremdbestimmt zu sein, gestalte ich eigenmächtig – mit viel Geschick –, was die Umwelt von mir sieht. So gewinnt Mann/Frau wenigstens ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zurück. 

Unbestritten haben Medien und die dort repräsentierten Schönheitsideale innerhalb des kulturellen Kontexts einen großen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und -behauptung. Jedoch machen wir es uns – als Innovatoren – zu einfach, lediglich ihnen den schwarzen Peter zuzuschieben. Wir müssen aktiv den Diskurs suchen, verstehen, was Technik mit uns macht, und besonders nach dem Warum und Wofür fragen. Denn nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch gesamtgesellschaftlich wünschenswert. 

Stefanie Wibbeke

Stefanie Wibbeke

Marketing & Communications

Stefanie leitet unser Kommunikations- und Content-Team. Als Wahlhamburgerin glaubt sie an Multi-Channel-Experiences und Häkeln.
© 2024 Indeed Inovation. All Right Reserved