Habt ihr “Don’t look up” gesehen? Der Komödien-/Katastrophenfilm auf Netflix über zwei mittelmäßige Astronomen, die versuchen, die Menschheit vor einem sich nähernden Kometen zu warnen, der unseren Planeten Erde zerstören wird? Konfrontiert mit Wissenschaftsleugnung, irreführenden Medien und Politikvermeidung geht die Rezeption von einer Allegorie auf den Klimawandel aus.

Die Kritiken schwanken zwischen euphorischer Laudatio „ein satirischer Einschnitt […] mit nur Humor als Betäubungsmittel“ (New York Times) und Ernüchterung, der Film sei zu offensichtlich, seicht oder reißerisch. Von den Kritiken abgesehen ist der Film mit weltweit 152,29 Millionen gesehenen Stunden in der Woche vom 27. Dezember bis zum 2. Januar ein Rekordhalter, der zeigt, dass Menschen gerne von alternativen Realitäten unterhalten werden. Vertraut genug, um sich darauf einzulassen, weit genug von der eigenen Realität entfernt, um Werte und Ideale zu hinterfragen.

Speculative Design spielt mit möglichen Realitäten. 

Wie “Don’t look up” stellt Speculative Design einen Weltentwurf vor, wie das Leben sein könnte. Speculative Design spielt mit möglichen Realitäten: sozial, kulturell, physisch etc. Grenzen sind nur bestimmte wissenschaftliche Unmöglichkeiten wie Vorahnungen oder Perpetuum mobile.

Speculative Design sucht nach Alternativen und findet konkrete Beispiele für Diskussionen. Es ist der ästhetische Ausdruck, der Alternativen mit inhärenter Poesie und Inspirationskraft vorschlägt. Das Design konstruiert in unseren Köpfen eine Welt unterschiedlicher Ideale, Werte und/oder Überzeugungen.

Beyond Radical Design? 

Speculative Everything von Anthony Dunne & Fiona Raby ist die Veröffentlichung, wenn ihr tiefer in die Beziehung von Design, Fiktion und sozialem Träumen eintauchen möchtet. In Anlehnung an die radikale Periode des italienischen Designs in den späten 1960er Jahren verschieben oder verbinden sie das Design weiterhin mit der Avantgarde. Oder wie sie es selbst ausdrücken: “This form of design thrives on imagination and aims to open up new perspectives on what is sometimes called wicked problems, to create spaces for discussion and debate about alternative ways of being, and to inspire and encourage people’s imaginations to flow freely.” (Dunne & Raby 2013)

Im ersten Kapitel und fortlaufend betonen sie die verbindende Rolle, die Design zwischen den Disziplinen spielt, und wie es die Vorstellungskraft jedes Berufsstandes anregt, den Alltag neu zu denken. Neben dem anerkannten Wert in Werbung, Mode, angewandter Kunst oder Architektur räumen die Autoren allerdings ein, dass Produktdesign zumindest auf professioneller Ebene manchmal mit dieser Art spekulativen Arbeitens hadert.

Design speculations can act as a catalyst for collectively redefining our relationship to reality.

Dunne & Raby

Dabei ist der Entwurf von Zukunfts-Szenarien ein sehr kreativer und phantasievoller Prozess. Unserer Erfahrung nach blühen Designer im Projekt auf – besonders wenn sie auf Werkzeuge und Techniken sowohl aus dem Design Thinking als auch aus den kreativen Künsten zurückgreifen.

Tools

  • Storyboards
  • Interviews/Fragebögen
  • Games
  • Role-play
  • Writing
  • Animation
  • Film, etc.

Methoden

  • Fiktive Welten
  • Warnende Erzählungen
  • What if… Szenarien
  • Kontrafaktische Geschichten
  • Reductio ad absurdum
  • Artefakte aus der Zukunft
  • Vorausschauende Zukünfte, etc.

Speculative Design erschließt neue Horizonte

Um zu verstehen, warum Produktdesign auf professioneller Ebene manchmal mit spekulativen Designprozessen zu kämpfen hat, sollten wir uns Stuart Candys Future Cone von 2003 ansehen.

Future Cone Illustration, die wahrscheinliche bis mögliche Ergebnisse in einer Matrix verortet

Produktdesigner werden normalerweise für das plausible, wünschenswerte und wahrscheinliche Ergebnis ihrer Arbeit gebrieft und daran gemessen. Das Mögliche (Eventualitäten) oder Wildcards sind eher Bestandteil studentischer Arbeiten oder eines Pitch Decks, aber selten abrechenbare Stunden. Es ist somit absehbar und verständlich, dass Designer unbezahltes, intellektuelles Stretching vermeiden, was im Umkehrschluss Unternehmen um wirklich disruptive Ideen bringt.

Unsere Beziehung zur Realität in Frage zu stellen und neu zu erfinden, ist der Vorteil von spekulativem Design.

Props (Requisiten jeglicher Art: Erzählung, Produkt, Skizze, Dummy) erleichtern das Imaginieren. Sie hinterfragen Erwartungen, lösen soziale Vorstellungen aus und führen zu kritischer Reflexion.

For props to work, viewers have to suspend their disbelief, willingly. They have to agree to believe in it. This creates the most room for aesthetic experimentation because it frees the design from mimicking reality and referencing the already known.

Dunne & Raby

„Damit Props funktionieren, müssen die Zuschauer bereitwillig ihren Unglauben aufgeben. Sie müssen zustimmen, daran zu glauben. Das schafft den größten Raum für ästhetische Experimente, weil es das Design davon befreit, die Realität nachzuahmen und auf bereits Bekanntes zu verweisen“, fassen Dunne & Raby es sehr treffend zusammen.
Requisiten sind keine Parodie auf bereits Bekanntes, sie sind Elemente der Ästhetik des Unwirklichen.

Nicht-binäre Person mit stählerne Vorrichtung um Leiste und Schambereich scheint zu menstrurieren.
Menstruation Machine, Sputniko!

Mit der Menstruationsmaschine hinterfragt der Künstler Sputniko! alle möglichen Ideale und Überzeugungen. Er eröffnet mit seinem Design den Diskurs über geschlechtsspezifische Rituale, biologische Notwendigkeiten und vieles mehr.

All diese „Was wäre wenn…“-Szenarien unterhalten und regen zum Nachdenken an – sie sprechen uns an und/oder fordern uns heraus. Die kleinen Utopien, die mit jedem spekulativen Design konstruiert werden, sind eine Einladung, das zu reflektieren und neu zu kodieren, was wir für selbstverständlich und unverrückbar gehalten haben.

Spekulatives Design und fiktionale Filme haben gemeinsam, uns zu zeigen, wie das Leben anders sein könnte – wie oben erwähnt. Wenn „Don’t Look Up!“ es also schafft, auf die Bewältigungsmechanismen der Gesellschaft angesichts drohenden Ungemachs aufmerksam zu machen, schaffen wir es vielleicht unser Verhalten angesichts des Klimawandels zu hinterfragen. Und so kann Speculative Design der Katalysator sein, wenn wir uns im Reich der Wahrscheinlichkeiten festgefahren fühlen. Fiktion und Spekulatives können uns zum Möglichen führen und uns helfen, Prioritäten neu zu formulieren; wenn wir bereit sind, der Prämisse zu folgen.

In den folgenden Wochen wollen wir drei sehr unterschiedlich Speculative Design Cases mit Euch teilen. Hoffentlich lasst ihr euch darauf ein und vielleicht steckt für eure Branche der disruptive Gedanke darin, den ihr im Meer der Möglichkeiten gesucht habt.

Stefanie Wibbeke

Stefanie Wibbeke

Marketing & Communications

Stefanie leitet unser Kommunikations- und Content-Team. Als Wahlhamburgerin glaubt sie an Multi-Channel-Experiences und Häkeln.

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