Jeder kennt das: das klebrige Ziehen, wenn sich ein noch frischer Kaugummi an die Schuhsohle heftet. Jeder Schritt erinnert an die pappige Hinterlassenschaft, vom Nervfaktor und Ekelgefühl beim Entfernen ganz zu Schweigen. 900 Millionen Euro geben Kommunen jährlich aus, um Kaugummis von den Straßen zu kratzen, der Gummi verrottet nicht – und macht Tiere krank, die die Kaugummis fressen.

Dass das Ausspucken von Kaugummis entlernt werden kann, zeigt ein Projekt aus England. Auf Bahnhöfen der Great Western Railway wurden grelle, pinkfarbene Gumdrop-Boxen aufgestellt – Mülleimer speziell für Kaugummis (, die es auch als Miniversion zum Mitnehmen gibt). Ergebnis: Die Eisenbahngesellschaft sparte 25.000 Britische Pfund Reinigungskosten pro Jahr. Das Unternehmen, das die Boxen aufstellt, verarbeitet den ausgespuckten Gummi schließlich zu anderen Plastikprodukten weiter.

Die Stadt Kopenhagen markierte 2011 mit grünen Fußspuren den Weg zum nächsten Mülleimer – und verzeichnete 46 Prozent weniger Müll auf den Straßen.

Solche einfachen, steuernden Maßnahmen beeinflussen unsere täglichen kleinen Entscheidungen. Der Fachbegriff dafür lautet „Nudging“ (engl. Anstupsen). Gerade wenn es darum geht, neues Verhalten zu propagieren und einen Wandel in Richtung Circular Economy einzuleiten, lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nudgings für alle, die Produkte und Services gestalten und vermarkten.

Nudge theory is a concept in behavioral economics, political theory, and behavioral sciences that proposes positive reinforcement and indirect suggestions as ways to influence the behavior and decision-making of groups or individuals. Nudging contrasts with other ways to achieve compliance, such as education, legislation, or enforcement.

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Das Konzept Nudging nutzt unser Wissen über die Psychologie von Entscheidungsprozessen. Für jede Entscheidung benötigt das menschliche Gehirn Energie. Um möglichst ressourcenschonend zu arbeiten, nutzt das Gehirn mentale Abkürzungen – etwa: Handle so wie die Mehrheit oder nutze den einfachsten Weg.

Nudging wird generell definiert als ein Hinführen zu einem für Mensch und Gesellschaft besseren Verhalten. Natürlich lassen sich die gleichen Mittel auch anderweitig für das Steuern von Verhalten einsetzen – dann ist es aber nicht mehr Nudging, sondern Manipulation.

Insgesamt lassen sich laut dem Rechtswissenschaftler Cass Sunstein (siehe Essay „Empirically informed regulation“) vier Verhaltenstendenzen identifizieren, die sich für das Nudging nutzen lassen:

  • Trägheit, Prokrastination;
  • die inhaltliche Darstellung von Sachverhalten, also Framing und Präsentation;
  • soziale Einflüsse und Normen; Fehleinschätzungen
  • Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten

Auf Basis dieser Erkenntnisse hat das „Behavioural Insights Team“ der britischen Regierung das Framework EAST entwickelt, um den Zugang zu Nudging-Ansätzen zu vereinfachen. Das Akrononym EAST steht für Easy, Attractive, Social, Timely.

Nudging-Mechanismen lassen sich in 4 Kategorien aufteilen:

  1. Easy – Menschen schätzen Convenience.
  2. Attractive – Menschen favorisieren ästhetische Lösungen.
  3. Social – Menschen wollen gefallen.
  4. Timely – Menschen brauchen kurzfristige Bestätigung.

Easy – Wir wollen es bequem haben.

In dieser Kategorie werden Hürden für das Durchführen erwünschten Verhaltens aus dem Weg geräumt. Seit es auf einem US-Campus spezielle Deckel für Mülleimer gibt, die deutlich machen, welche Art Müll in welche Tonne gehört, stieg dort die Recycling-Rate.

Die gewünschte Variante als Standard (als „Default“) anzubieten ist eine weitere Methode, Aufwand zu reduzieren. Ein deutscher Energieversorger machte den Tarif mit Strom aus erneuerbaren Quellen zum Standard – und verzeichnete eine Verzehnfachung der Kunden für dieses Angebot. Das funktioniert auch im Handel zwischen Unternehmen: Lösungsmittel und Reinigungschemikalien können zum Beispiel vorrangig per Leasing angeboten werden, statt zum Kauf – auf diese Weise wird die Wiederaufarbeitung für den erneuten Gebrauch sichergestellt.

Das Vereinfachen von Informationen ist ebenfalls ein sehr wirksames Mittel: Um Verschreibungsfehler bei Medikamenten zu reduzieren, veränderte das Imperial College in London in einer Studie die Formulare: Statt die Masseneinheit einer Dosis von Hand zu schreiben – was bei schlechter Handschrift zu Verwechslungsfehlern zwischen Milligramm und Microgramm führt – wird die Gewichtseinheit nur noch im Vordruck angestrichen. In Tests sank dadurch die Fehlerquote.

Ein weiteres Beispiel ist die einfache Änderung des Aufdrucks auf Rabattetiketten für Lebensmittel am Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums: von „30 Prozent weniger“ auf einem roten Etikett zu „30 Prozent weniger – schnell verzehren“ auf einem grünen Etikett – bereits diese kleine Änderung erhöhte die Bereitschaft der Kunden zum Kauf und reduziert die Menge von Lebensmittelmüll.

Attractive – Wir lieben schöne Dinge.

Menschen neigen dazu, eine neue Option eher wahrzunehmen, wenn sie ansprechend gestaltet ist. Diese Aufmerksamkeit kann durch unterschiedliche Aspekte erzeugt werden: Emotionen, Personalisierung oder auch die Darstellung eines persönlichen Nutzens. Beispiele dafür sind Ampelmarkierungen auf Lebensmittelverpackungen für den gesundheitlichen Wert des Produkts oder es gibt finanzielle Anreize für ein bestimmtes Verhalten; Pfandsysteme nutzen diesen Mechanismus.

Social – Wir sind soziale Wesen.

Sozialer Druck ist ein wirksames Mittel, das auch sehr subtil eingesetzt werden kann. Beispielsweise werden auf Rechnungen von Energieversorgern die durchschnittlichen Verbrauchswerten von anderen Kunden aufgeführt und ins Verhältnis zum eigenen Verbrauch gesetzt. Kommunikation über das Verhalten von Gruppen kann auf diese Weise auch eingesetzt werden, um mehr Menschen davon zu überzeugen, auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten, Wasser zu sparen, Müll zu trennen oder Mehrwegverpackungen zu nutzen. Eine Kombination aus Feedback-Berichten und Vergleichen mit anderen Gruppen führte in den USA beispielsweise zu einem um 5 Prozent niedrigeren Wasserverbrauch. Derartige Berichte und Vergleiche können auch spielerisch angewandt werden – etwa mit Echtzeit-Displays in Apps oder sie können kombiniert werden mit Wettbewerben innerhalb bestimmter Gruppen.

Timely – Wir leben im Hier und Jetzt.

Weil wir die Gegenwart viel höher bewerten als Ereignisse und Konsequenzen irgendwann in der Zukunft, lohnt es sich, die akuten, sofortigen Auswirkungen nachhaltigen Handelns zu betonen. Beispielsweise lassen sich die sofort wirksamen Einsparungen einer Waschmaschine pro Monat direkt beim Kauf illustrieren – mit einer Hochrechnung auf die Ersparnis über die Lebensdauer. Das relativiert den höheren Preis und signalisiert eine sofortige Ersparnis.

Der Zeitpunkt für Informationskampagnen ist ebenfalls entscheidend. Typischerweise verfangen sie besser, wenn Menschen ohnehin planen, ihr Verhalten anzupassen: Zu Jahresbeginn etwa oder beim Jobwechsel oder beim Umzug in eine neue Stadt. Neue Einwohner steigen fünfmal häufiger auf Bike-Sharing um, wenn sie in eine neue Stadt ziehen, als wenn eine neue Station in einem bestehenden Wohnviertel installiert wird.

Die Beispiele zeigen: Es lohnt sich, genau zu überlegen, welche Verhaltensweisen durch welche psychologischen Muster gesteuert werden können. Wichtig dabei: Nudges eignen sich vor allem dann, wenn die Auswirkungen einer Entscheidung erst mit zeitlicher Verzögerung spürbar werden, wenn es sich um komplexe Entscheidungen handelt oder sie selten getroffen werden muss (und daher kein Lerneffekt eintreten kann).

Je nach Nudging-Ansatz lassen sich Menschen durchaus bereitwillig auf diese Form der Lenkung ein – sofern sie ihren grundsätzlichen Werten und Einstellungen entspricht. Falsch angewandt, schlägt die Wirkung ins Gegenteil um. Das zeigen die allgegenwärtigen Cookie-Popups – wo die Option für das Deaktivieren nicht notwendiger Cookies häufig in schwachgrauer Farbe in kleiner Schrift versteckt wird. Das Ergebnis: Widerstand gegen das gewünschte Verhalten.


Further information & sources:

Nudging – Report des Umweltbundesamtes („Nudge-Ansätze beim nachhaltigen Konsum: Ermittlung und Entwicklung von Maßnahmen zum „Anstoßen“ nachhaltiger Konsummuster“) –https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2017-08-22_texte_69-2017_nudgeansaetze_nach-konsum_0.pdf
The Little Book of Green Nudges – UN Environmental Program – https://www.unep.org/explore-topics/education-environment/what-we-do/little-book-green-nudges
Nudging and pro-environmental behavior – Nordic Council of Ministers – https://norden.diva-portal.org/smash/get/diva2:1065958/FULLTEXT01.pdf
Nudging. A tool for sustainable behavior? – Oksana Mont, Matthias Lehner, Eva Heiskanen, Swedish Environmental Protection Agency – https://www.researchgate.net/publication/271211332_Nudging_A_tool_for_sustainable_behaviour
EAST Framework – Behaviour Insights Team of British Government – https://www.bi.team/publications/east-four-simple-ways-to-apply-behavioural-insights/

Michael Leitl

Michael Leitl

Innovation & AI Strategy

Als Chemiker, langjähriger Redakteur beim „Harvard Business Manager“, Mitglied des Innovationsteams bei „Der Spiegel“ und mehr bringt Michael viel Wissen in das Team ein und für unsere Partner und Kunden mit.

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