Balance halten ist schwierig in stürmischen Zeiten
Der Begriff der Work-Life-Balance entstand bereits im Kontext der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Durch neu gewonnene Technologien gab es eine Verlagerung von Arbeitsplätzen, die die Trennung der Arbeits- und Lebensgemeinschaft zur Folge hatte. In Deutschland ist die Work-Life-Balance seit den 90er-Jahren ein Thema. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen sollen, wobei die Bereiche stark voneinander abgegrenzt sind, hat diverse positive Auswirkungen. Der Arbeitnehmer soll neben seiner Berufstätigkeit ausreichend Spielraum für seine privaten Interessen haben. So soll Stress abgebaut werden, der für geringere Krankenstände und weniger Fluktuation sorgt und gleichzeitig die Motivation gefördert werden. Das vorausgesetzte bessere Zeitmanagement ist zudem familienfreundlich.
Die Grenzen verschwimmen
Durch das krisenbedingte Home-Office ist unsere Arbeit im März in unser Zuhause eingezogen. Eine räumliche Trennung von Arbeit und Leben gibt es somit nicht mehr und auch die zeitliche Trennung wird immer unschärfer. Kollegen berichten, dass sie lieber früh morgens mit der Arbeit beginnen, dann eine Mittagspause machen, die sich über mehrere Stunden ausdehnt und den restlichen Teil ihrer Arbeit am Abend verrichten. Andere nutzen die Situation wiederum, um auszuschlafen, während des ersten Kaffees bereits Mails checken und neben der Arbeit eine Waschmaschine anschmeißen oder das Mittagessen vorbereiten.
Wichtig ist, dass die Balance stimmt. Doch wenn alles immer flexibler wird, wird dies immer schwieriger. So ist die Work-Life-Balance für viele Arbeitnehmer heute eine unerreichte Wunschvorstellung.
Schritt für Schritt flexibleres Arbeiten
Schon öfter in der Geschichte gab es in der Arbeitswelt Etappen, an denen zunehmende Flexibilität das Arbeiten in verschiedenen Formen verändert hat. Dies galt jedoch nie für jeden Arbeitnehmer und jedes Unternehmen in gleicher Form.
So ist es immer noch für die große Mehrheit der Menschen üblich, lokal zu arbeiten. Das heißt, dass die Arbeit am Ort des Arbeitgebers, zum Beispiel in einem Büro, erbracht wird und zeitlich genau definiert ist. Für einen Teil der Menschen hat sich dies dann zu Telearbeit entwickelt. Der Arbeit, die ganz oder teilweise von zu Hause erbracht wird, bei der ein definierter Telearbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird und Arbeitszeiten weiterhin fest sind.
Eine weitere Stufe zu mehr Flexibilität ist dann das mobile beziehungsweise dislozierte Arbeiten. Hierbei kann von unterwegs und an vom Arbeitnehmer selbst bestimmten Orten gearbeitet werden, wobei die Arbeitszeiten weiterhin definiert sind.
Die Stufe mit der derzeit größtmöglichen Flexibilität ist dann die, auf der Arbeit nur am Ergebnis gemessen und von überall und zu jederzeit erbracht werden kann. Bei diesem sogenannten ROWE-Modell (Results Oriented Work Environment) sind Arbeitszeiten weitestgehend undefiniert.
Beruf und Privatleben im Lot halten
In den vergangenen Wochen und Monaten wurden viele Unternehmen und Arbeitnehmer von heute auf morgen auf eine andere Stufe befördert, die mehr Flexibilität zur Folge hatte, mit der beide Seiten aber erst einmal üben mussten umzugehen. Alle mussten lernen, dass Vertrauen die Basis für flexibles und ergebnisorientiertes Arbeiten ist. Und jeder Einzelne konnte feststellen, dass mit zunehmender Flexibilität die Work-Life-Balance immer stärker ins Wanken gerät und schwieriger im Lot zu halten ist.
Vor allem im Home-Office fällt es mitunter deutlich schwerer, die Bereiche Beruf und Privatleben voneinander zu trennen und die Balance zu wahren. Während der vermeintlichen Arbeitszeit werden private Nachrichten gelesen und beantwortet, die Wäsche aufgehängt und gekocht. Anschließend werden während der eigentlichen Freizeit berufliche Nachrichten gelesen. Die Digitalisierung der Kommunikation lässt Grenzen verschwimmen. Wer ein Arbeitshandy hat, das er auch privat nutzt, wird dies nur zu gut kennen. Die Folge ist, dass wichtige Arbeiten kaum noch fokussiert, konzentriert und ohne Unterbrechungen erledigt werden können. Was wiederum zur Folge hat, dass sich der Arbeitnehmer gestresst fühlt. Zusammen mit dem Nicht-mehr-Abschalten-Können sind dies dann Faktoren, die ernsthafte Krankheiten zur Folge haben können.
Fließender Übergang vs. klare Abgrenzung
Immer wieder wird im Zusammenhang der Work-Life-Balance nun auch von Work-Life-Blending beziehungsweise Work-Life-Integration gesprochen. Hierbei gibt es einen fließenden Übergang oder eine Vermischung von Arbeits- und Privatleben, die durch neue Technologien und Tools ermöglicht wird. Die klar voneinander abgegrenzten und genau definierten Bereiche von Lebenswelt und Arbeitswelt verschmelzen, sodass Arbeit von Ort und Zeit entkoppelt wird.
Der fließende Übergang beim Work-Life-Blending animiert den Arbeitnehmer zur Daueraktivität: es wird im Café, im Strandbad oder beim Fernsehen mal kurz nebenbei noch gearbeitet. Der Arbeitnehmer kann so auf der einen Seite die Arbeitszeiten an seine persönlichen Bedürfnisse anpassen, auf der anderen Seite kann die Vermischung schnell negative Folgen auf das Privatleben haben. Auch die Gefahr, dass es nicht zum Blending kommt, sondern, dass das Arbeitsleben das Privatleben zunehmend überlagert und verdrängt, besteht.
Die Unterschiede sind deutlich. Während bei der Work-Life-Balance Arbeit und Freizeit klar getrennt werden, ein Gleichgewicht angestrebt und der Arbeitsalltag immer noch durch Arbeitszeit und -ortsregelungen des Arbeitgebers geprägt sind, verschmelzen die Bereiche beim Work-Life-Blending. Beispielsweise finden Freizeitangebote dann im Berufsalltag statt, der Arbeitnehmer ist flexibler in seiner Arbeitseinteilung, der Wahl des Ortes und der Zeit aber gleichzeitig immer erreichbar.
Wie Frithjof Bergmann in den 1980er-Jahren in seiner Sozialutopie zu New Work bereits schreibt, müssen Arbeitnehmer sich nicht die Frage stellen, welcher Job ihnen Spaß machen könnte, sondern was sie wirklich, wirklich tun wollen. Und wenn man die Antwort auf diese Frage gefunden hat, dann kann Arbeit nicht mehr klassisch von Freizeit getrennt werden, weil die Grenzen dann verschwimmen. Weil man dann Inspiration überall sucht und findet. Weil Ideen dann überall und zu jederzeit entstehen können und weil Arbeit dann nicht mehr an ein festes Grundgerüst, bestehend aus einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit am Tag, besteht. Doch Abschalten ist wichtig. Freizeit ist wichtig. Auch für die Gesundheit. Am Ende bleibt das Gefühl, dass viele beim Streben nach einer Work-Life-Balance im Work-Life-Blending gelandet sind.
Quellen
Quellen:
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/work-life-balance-infografik/
https://upload-magazin.de/32708-neue-arbeitsmodelle-work-life-blending-vs-work-life-balance/
https://silkewolf.com/work-life-balance-work-life-integration-oder-doch-lieber-work-life-blending/
https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/