Mehr als menschzentriertes (human-centered) Design
Lange dachten wir, dass sich die Welt um uns dreht. Wir haben es verschieden bezeichnet: menschenzentriert, benutzerzentriert und kundenzentriert. Es gab Nuancen zwischen diesen Begriffen, aber im Großen und Ganzen ging es immer um menschliche Bedürfnisse, Wünsche, unser Glück und unsere menschliche Zufriedenheit.
Heroen dieses Ansatzes sind das iPhone und der Swiffer. Beide sind unglaublich nützlich und bequem, aber das iPhone ist für den Verbraucher unmöglich zu reparieren, und der Swiffer ist eine Verschwendung von Ressourcen.
Beide Produkte sind das Ergebnis sorgfältiger Forschung und angewandtem Design Thinking. Das eine soll uns näher zusammenbringen, bringt uns jedoch dazu, unser Kreditkartenlimit auszuschöpfen und ständig nach der nächsten Generation zu hecheln, während es jede reale Unterhaltung mit Geräuschen oder blinkendem Display torpediert. Das andere Produkt befreit unsere Oberflächen und Böden vom wiederkehrenden Hausstaub, indem es Unmengen an textilem Müll produziert.
Dies alles sind unbeabsichtigte Folge von Produktentwicklungen, die dem für sie eingeschlagenen Weg des Design Thinking folgten. Und wir, die Nutzer, kauften glücklich, ungeachtet der Nichtreparierbarkeit oder Verschwendung von Rohstoffen.
Was wäre, wenn wir die ganze Zeit falsch gelegen hätten?
Jahrzehnte ging es beim Design um unseren Komfort und unsere Bequemlichkeit als Verbraucher und Benutzer. Unser ganzheitliches Wohlbefinden als Menschheit war den unternehmerischen Wachstumsinteressen untergeordnet. Den Menschen schien das egal zu sein. Warum sollte sich also die Industrie darum scheren?
Im westlichen, kapitalistisch geprägten Kulturkreis verwechseln wir Wünsche häufig mit reellen Bedürfnissen. Designer, Marketiers und Manager adressieren unsere Wünsche und ihre zugrunde liegenden Treiber, indem sie Produkte und Dienstleistungen entwickeln, die uns ansprechen. Als grobe Klassifizierung könnten wir diese Treiber als Zeitersparnis, Geldersparnis, Komfort und Benutzerfreundlichkeit benennen. Das Bedürfnis nach Nahrung ist ein Muss, sonst verhungert der Mensch. Dass Delivery Hero oder UberEats in 15 Minuten liefert, ist jedoch Nice-to-have oder ein frommer Wunsch. Kein Bedürfniss!
Angenommen, wir vergleichen unsere empfundenen Bedürfnisse, die eigentlichen Wünsche sind, mit Maslows Pyramidensystem unserer reellen Bedürfnisse. Die heutigen Verbrauchermärkte bedienen hauptsächlich die obersten vier Ebenen. Je nach Markenengagement können sie sogar die obersten Ebenen substituieren oder befeuern.
Auch Marken, die vermeintlich auf die grundlegenden Bereiche der Pyramide abzielen, wie Britta (Wasserreiniger), Dyson (Klimaanlage) oder Nestle (Lebensmittel), haben in letzter Zeit zu Recht negative Presse bekommen. Der unerbittliche Konsumismus der letzten Jahrzehnte hat zu massiver Verschwendung geführt, und die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen verweigert früher oder später unsere Grundbedürfnisse.
Kaum ein Unternehmen kämpft darum, frische Luft, klares Wasser und bezahlbare Behausungen sicherzustellen. Anstatt die natürlichen Ressourcen zu schützen, werden sie an entfernter Stelle abgebaut, global hergestellt und lokal verkauft, wodurch ganze Landstriche mit begrenzten Möglichkeiten zurückgelassen werden.
Können wir menschenzentriertes Design als „erfolgreich“ ansehen, wenn eine Person verschmutzte Luft atmen muss? Wenn soziale Bindungen schwach und oberflächlich sind. Oder wenn jemand, der jeden Tag bei McDonald’s Burger wendet, von Lebensmittelmarken leben muss? Vielleicht sollten wir Maslows Bedürfnishierarchie nicht als eine Leiter betrachten, die es zu erklimmen gilt, auf der eine Ebene der nächsten Platz macht. Müssen wir stattdessen nicht alle fünf Ebenen gleichzeitig und global betrachten?
Was erwartet uns abseits von human-centered design?
“Humanity-centered design embraces the mindset that what isn’t good for the hive isn’t good for the bee. It’s a world of designing solutions focused not just on doing the most good for an individual human but also the larger community of humans.”
Taylor Cone
Bei INDEED Innovation streben wir über menschenzentriertes Design hinaus, oder wie Taylor Cone, Gründer und CEO von Lightshed, einem Design- und Innovationsunternehmen mit Sitz in San Francisco, es ausdrückt:
—Menschlichkeitsorientiertes Design umfasst die Denkweise, dass das, was nicht gut für den Bienenstock ist, auch nicht gut für die einzelne Biene sein kann. Es ist ein Lösungsansatz, der sich nicht nur darauf konzentriert, was das Beste für einen einzelnen Menschen ist, sondern die Auswirkungen auf alle Menschen einschließt.—
Im Jahr 2005 warnte der Designforscher Donald A. Norman vor “human-centeredness“ im Design, da die erheblichen Vorteile für einige Wenige nicht die nachteilige Beeinflussung vieler anderer (Menschen und Systeme) aufwiegen würde. Die Plattformökonomie ist ein typisches Beispiel. Es ist sehr praktisch für den Kunden, der ein Uber ruft. Doch die Lebenswirklichkeit für Uber-Fahrer weltweit ist nicht so rosig, insbesondere weil sie kein Sicherheitsnetz in Form von Sozialversicherungen haben.
In ähnlicher Weise argumentiert Thomas Both, Direktor des Programms „Designing for Social Systems“ am Hasso-Plattner-Institut für Design an der Stanford University, dass es wichtig ist, die „nachgelagerten Konsequenzen jeder Kreation“ zu berücksichtigen. Dem können wir nur zustimmen.
Tools, Tipps und Frameworks, die dabei helfen über human-centered Design hinauszugehen
Xenodesign
“When designers center around the user, where do the needs and desires of the other actors in the system go? The lens of the user obscures the view of the ecosystems it affects.”
Kevin Slavin
Kevin Slavin, Assistenzprofessor und Gründer von Playful Systems am MIT Media Lab, formuliert die relevante Frage, die die Praxis des menschzentrierten Designs zu verfolgen begonnen hat: —Wenn Designer:innen den Anwender in den Mittelpunkt stellen, wo bleiben dann die Bedürfnisse und Wünsche der anderen Akteure im System? Die Anwenderbrille verzerrt den Blick auf die Ökosysteme, die er beeinflusst.—
Die Designerin Johanna Schmeer schließt sich dieser Meinung an. Es geht nicht nur darum, die Bedürfnisse der anderen Menschen zu berücksichtigen, die nicht ihre Nutzer sind. Es geht darum, auch die nicht-menschlichen Akteure zu berücksichtigen: “Ökologien, Bakterien, Luft, Boden, künstliche Intelligenzen, etc.”
“In times when robots are granted citizenship and residency rights, undefined forests and mountains are given the same legal status as humans to protect them from ecological disaster, and in which we now understand that humans are to a large extent other-than-human, hosting more microbial cells in our body than human cells, our attitudes toward design and human-centeredness need to be reexamined.”
Johanna Schmeer
Sie schreibt:
—In Zeiten, in denen Robotern Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht gewährt werden, undefinierte Wälder und Berge den gleichen rechtlichen Status wie Menschen erhalten, um sie vor ökologischen Katastrophen zu schützen, und in denen wir jetzt verstehen, dass der Mensch zu einem großen Teil anders-als-menschlich ist, da er mehr mikrobielle Zellen in seinem Körper beherbergt als menschliche Zellen, müssen wir unsere Einstellung zu Design und Menschenzentriertheit neu überdenken.—
Schmeer argumentiert, dass das Problem darin besteht, dass die Zukunft, die die Menschen wollen, nicht notwendigerweise die gleiche ist wie die Zukunft, die “die Umwelt, eine KI oder Ihr Darmmikrobiom will.” Deshalb plädiert sie für Xenodesign, weil es zwar den Menschen nicht außer Acht lässt, aber versucht, mehrere Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen, indem es den Erfahrungen mehrerer Beteiligter gleichermaßen Beachtung schenkt: vom Menschen über künstlich intelligente Wesen bis hin zu Luft, Bakterien und darüber hinaus.
Actant Map oder Non-human personas
Eine weitere Möglichkeit, um sicherzustellen, dass Sie die Stimme der Umwelt in das Gespräch einbringen, ist das Zeichnen und Plotten einer Akteurskarte. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Akteure eine Handlungsfähigkeit/ein -interesse haben.
Es können auch nicht-menschliche Personas erstellt werden, um die Bedürfnisse und Anliegen der Umwelt (oder spezieller schützenswerter Gebiete) deutlich zu machen.
Doughnut Economics
Das Konzept der “Doughnut Economics” der Ökonomin Kate Raworth enthält mehrere Prinzipien, die Designer:innen beherzigen sollten. Der Doughnut ist ein “Kompass für den menschlichen Wohlstand im 21. Jahrhundert, mit dem Ziel, die Bedürfnisse aller Menschen im Rahmen der Möglichkeiten des lebendigen Planeten zu erfüllen.” Das Doughnut Economics Action Lab erklärt diese Prinzipien wie folgt:
- Verinnerlichen wir das Ziel des 21. Jahrhunderts: Es wird möglich sein, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, ohne den Planeten zu zerstören.
- Sehen wir das große Ganze: Beachten wir die verschiedenen Rollen und Akteure und wie sie interagieren, von den Haushalten, den Gemeingütern, dem Markt und dem Staat.
- Hegen und pflegen wir die menschliche Natur: Konzentrieren wir uns auf die Stärkung von Gemeinschaftsbeziehungen, den Aufbau von Vertrauen und die Sorge um das Wohlergehen der Menschen; vergrößern wir den Kreis, indem wir die Teilhabe erweitern und die Vielfalt fördern.
- Denken wir in Systemen: Erkennen wir, dass sich die Elemente innerhalb eines Systems gegenseitig beeinflussen, und halten wir Ausschau nach dynamischen Effekten, Rückkopplungsschleifen und Wendepunkten.
- Sei generös: Teilen wir den Wert mit denen, die geholfen haben, ihn zu schaffen, und streben wir eine Umverteilung der Macht an, um mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu schaffen.
- Sei regenerativ: Teilen, Reparieren, Regenerieren und Verwalten; denken wir bei unseren Entscheidungen an das Klima und die Energie.
- Streben wir eher nach Gedeihen als nach Wachstum: Erwägen wir, besser statt größer zu werden, und lassen wir Wachstum nicht unser oberstes Ziel sein.
Und es gibt viele weitere Tools, die wir verwenden, und auch eure Unternehmung voranbringen können – Gerne diskutieren wir die Opportunitäten mit euch.
Wir gehen über human-centered design hinaus – doch wohin?
Der Wechsel von der Sorge um uns hin zur Sorge um alles und jeden hätte gestern stattfinden müssen. Wir haben also keine Zeit zu verlieren. Wir haben aufgezeigt, warum es problematisch geworden ist, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und was dies fürs Design bedeutet, abgesehen von der Zufriedenheit des einzelnen Benutzers oder Verbrauchers.
Wir haben hoffentlich verständlich machen können, warum es wichtig ist, eine über den Menschen hinaus gehende Denkweise zu implementieren, und konnten einige praktische Anwendungstipps zeigen, um rein menschzentriertes Design zu überwinden. Jetzt liegt es an Euch und uns, die wünschenswerten Veränderungen herbeizuführen. Wie auch immer wir es nennen: Planet-Centered Design, Humanity-Centered Design, Life-Centered Design, Society-Centered Design, System-Design oder Stakeholder Design (Anm. der Redaktion: Wir tendieren aktuell zu System-Design).
Der Schlüssel zum Erfolg liegt für uns darin, Unternehmen und Innovationen so zu gestalten, dass das Wohlergehen von Menschen, Tieren, Ökosystemen und der Gesellschaft insgesamt berücksichtigt wird. Auf diese Weise können wir die nachgelagerten Folgen unserer Handlungen aktiv planen und ihre Auswirkungen angehen.
Dieser Artikel wurde gemeinsam von Karel J. Golta, Michael Leitl, Marizanne Knoesen und Stefanie Wibbeke verfasst.